zeigt er im Buch "Reserve" sein wahres Ich?
Was ist eigentlich ein Narzisst? Und ist Prinz Harry wirklich einer?
- Aktualisiert: 15.02.2023
- 12:20 Uhr
- Jannah Fischer
So hatte sich das Prinz Harry sicher nicht vorgestellt. Nach seiner Autobiografie "Reserve" werden immer mehr Stimmen laut, die ihm Narzissmus vorwerfen. Aber ist da überhaupt etwas dran?
Viel Unmut wegen Buch "Reserve"
Prinz Harry kann feiern: "Reserve" (englischer Originaltitel "Spare") ist laut "Guinnes World Records" das am schnellsten verkaufte Sachbuch jemals mit 3,2, Millionen verkaufter Exemplare allein in der ersten Woche. Doch neben den Momenten der Freude, muss Harry sich auch mit Gegenwind herumschlagen. Von den einen wird er gefeiert, weil er sich in "Reserve" verletzlich und nahbar zeigen würde. Für andere beweist Harry nur eins: dass er sich seiner Priviliegien nicht bewusst ist und sich alles nur um ihn kreist. Autsch, das sitzt. Ein Wort hören und lesen wir in Expertentalks und Kommentaren dabei immer wieder: Narzissmus. Kann man Prinz Harry diese Form der Selbstverliebtheit, die Psychologen auch als Persönlichkeitsstörung bezeichnen, wirklich vorwerfen?
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Was ist Narzissmus überhaupt?
Die dunkle Seite von Harry und Meghan
Das Wort Narzissmus ist auf einen griechischen Mythos zurückzuführen, bei dem sich – in der Kurzfassung – der schöne Jüngling Narziss ganz selbstverliebt nur für sich und sein eigenes Spiegelbild interessiert. In der Psychologie wird der Begriff narzisstische Persönlichkeitsstörung für Menschen genutzt, die ein mangelndes Selbstwertgefühl haben und sehr kritikempfindlich sind. Dazu zeigen sie Merkmale wie extreme Eitelkeit und Selbstbewunderung sowie übertriebenes Selbstbewusstsein, mit dem sie nach außen ihren eigentlichen Mangel an Selbstwert überspielen.
Narzissten übertreiben oft in ihren (beruflichen wie privaten) Erfolgen, stehen gerne im Mittelpunkt und überschätzen das eigene Können. Sie neigen dazu, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen, um ihre Ziele zu erreichen. Diese Ziele können auch Mitgefühl von anderen, Anerkennung oder die Durchsetzung des eigenen Willens sein. Da sich Narzissten nicht gut in andere hineinfühlen können, verhalten sie sich anderen gegenüber oft so, wie sie selbst nicht behandelt werden wollen. Sie neigen dazu, andere auszunutzen oder die Erfolge des Gegenübers klein zu machen oder gar zerstören zu wollen.
Prinz Harry: Alles nur Show?
Natürlich kann man als Beobachter:in nicht einfach behaupten, Harry habe eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Wir alle kennen Harry nicht und alles, was wir von ihm zu wissen glauben, puzzeln wir uns über die kleinen Schnipsel an Informationen, die er in seiner Doku, seinen Memoiren "Reserve" oder in Interviews mit uns teilt, zusammen. In seinem Buch vergleicht Harry das Royalsein mit dem Theaterspielen: Sobald er in der Öffentlichkeit steht, spielt er die Rolle "Prinz Harry".
Ein Vergleich, der zunächst seltsam klingen mag, aber sogar einen wissenschaftlichen Hintergrund hat. Der Soziologe Erving Goffman hat schon in den Fünfzigerjahren darüber geforscht und festgestellt: Wir alle spielen Theater. In seinem gleichnamigen wissenschaftlichen Grundlagenwerk beschreibt Goffman, dass jeder Mensch mehrere Rollen spielt: Die Rolle des Kindes, wenn er oder sie mit den Eltern kommuniziert. Die Rolle des Freundes, wenn man mit der Clique unterwegs ist. Oder auch die Rolle des Angestellten, im Gespräch mit dem Chef. Jede Rolle bringt ein anderes Verhalten mit sich – das heißt nichts anderes, als dass man im Gespräch mit Freunden anders ist als im Gespräch mit dem Chef.
Goffmans Theorie geht sogar so weit zu behaupten, dass das Rollenspiel beginnt, sobald jemand anderes im Raum ist. Er sagt auch, dass wir unsere eingeübten Rollen durch Sprache präsentieren können – und damit auch entscheiden, wie wir beim Gegenüber ankommen. Doch nicht nur Rhetorik, Gestik und Mimik, auch Faktoren wie Kleidungsstil oder Gangart entscheiden darüber, wie unser Auftreten wirkt.
Wir als Außenstehende, als Fans von Harry, als royale Beobachter, kennen nur die Rolle "Prinz Harry", die er einnimmt, sobald er mit der Presse, der Öffentlichkeit oder dem Volk interagiert. Durch das Buch "Reserve" wollte Harry mit dieser Rolle brechen und allen zeigen: Das ist mein wahres Ich. Ich bin mehr als meine Rolle "Prinz Harry".
Das Interessante daran ist aber, dass er in dem Moment auch wieder eine Rolle einnimmt: die des neuen, offenen Prinzen. Mit "Reserve" wollte Harry seine Rolle erstmals ganz bewusst neu formen. Denn man darf beim Lesen nicht vergessen: Harry gibt nur das preis, was er preisgeben will. Geschichten, in denen er etwa nicht gut wegkommt, hat er beim Schreiben einfach weggelassen. Details, die ihm vielleicht unangenehm sind, einfach vergessen zu erwähnen. Prinz Harrys offene und ehrliche Worte sind letztlich immer auch ein Stück berechnend.
Harry inszeniert sich neu: Weg vom verschlossenen Royal, hin zum "Ich bin so wie ihr"-Knuddelprinz. Man muss ihn doch einfach lieb haben, wenn er in Talkshows witzelt oder in seinem Buch den Herzschmerz niederschreibt, den der Streit zwischen seinem Bruder Prinz William und ihm ausgelöst hat. Und das darf man auch. Man darf Mitleid und Mitgefühl mit Prinz Harry (und Meghan Markle) haben. Aber man darf eben nicht übersehen, dass es Absicht sein könnte, dass Harry diese Gefühle in uns auslöst. Und hier sind wir auch schon im Kern der Debatte, ob Prinz Harry ein Narzisst ist.
Ist Prinz Harry ein Narzisst?
Klar, treffen Punkte aus der Definition eines Narzissten auch auf Passagen zu, die Prinz Harry in "Reserve" niedergeschrieben hat. Es wirkt oftmals so, als würde nur seine Wahrheit existieren. Harry lässt sich definitiv dazu hinreißen, sich selbst zu überhöhen. So empört er sich über die Dreistigkeit von Lady Dianas Ex-Butler, ein Enthüllungsbuch zu schreiben. Mehr noch betont er, dass das Buch des Butlers ja nur die Meinung und Sicht eines einzigen Mannes widerspiegelt. Harry empfindet dieses Buch als Verletzung. Doch tut er mit "Reserve" nicht genau dasselbe? Liefert er mit diesem Buch tatsächlich "nichts als die Wahrheit"? Der Prinz scheint im Bezug auf den Wahrheitsanspruch das Wort "meine" vergessen zu haben – und auch, wie sich wohl King Charles, Camilla, William und Kate fühlen. Ein bisschen ironisch. Oder doch schon narzisstisch?
Ebenso wiedersprüchlich: Sein Verhältnis zur Presse, die er nonstop im Buch verteufelt. Doch macht Prinz Harry seit dem Megxit nichts anderes, als sein Privatleben und seine Skandale mit der Öffentlichkeit zu teilen: In Interviews, wie mit Talkmasterin Oprah Winfrey, in dem Meghan und er erstmals schwere Vorwürfe gegen die britische Königsfamilie erhoben, in der eigenen Doku auf Netflix oder eben in den eigenen Memoiren. Darin gibt er tiefen Einblick in seine Gedanken und Gefühle, die natürlich von Fans wie der Presse diskutiert werden. Er hat sie schließlich auch öffentlich gemacht. Er nutzt die Presse für sich – aber will nichts mit ihr zu tun haben? Komisch.
Genauso ein Rätsel: Als sich seine Frau, Herzogin Meghan, in einem Interview mit Nelson Mandela verglich, äußerte Harry sich dazu nicht. Ein Vergleich, den er scheinbar nachvollziehbar fand, was aber offensichtlich nicht für andere gilt.
Im Buch beschreibt Harry einen gemeinsamen Pressetermin mit der Neunziger-Girlgroup Spice Girls, bei dem sie Nelson Mandela in Johannesburg kennenlernten und sich in einer Rede ebenfalls mit ihm verglichen. Für viele liest sich eher Größenwahn als Anerkennung heraus, die Harry diesem Vergleich zukommen lässt.
Hier zeigt, so sind sich viele Leser:innen einig, Harry einen Charakterzug, der sich durch "Reserve" schlängelt: Wenn er oder Meghan etwas tun, hat es immer eine Berechtigung, doch anderen spricht er diese oftmals ab. Seine Wünsche und Ziele haben also mehr Stellenwert, als die anderer – wie bei Narzissten oft der Fall.
Bleiben wir noch bei den Spice Girls: Beim besagten Pressevent wundert sich Harry (damals im jungen Teenageralter), wieso die Band die Presse so zu lieben scheint. Als "vom Blitzlichgewitter berauscht" beschreibt er die fünf Sängerinnen, und zeigt Unverständnis darüber, dass sie gar nicht genug von den Fotografen und Journalisten bekamen: Presseauftritte waren und sind Prinz Harry bis heute ein Graus.
Dass die Spice Girls für Interviews trainiert wurden, sich der Wichtigkeit von Publicity und Berichterstattung bewusst waren, und das als Teil ihres Jobs ansahen – das scheint Prinz Harry weder im Teenageralter noch mit Ende dreißig verstanden zu haben. Öffentliche Aufmerksamkeit bedeutete für die Spice Girls den Verkauf von CDs. Ohne musikalischen Erfolg hätten die Fünf schnell wieder in ihre alten Jobs und ihr altes Leben zurückkehren müssen. Die Spice Girls hatten etwas zu verlieren, Harry nicht.
Ein Privilieg, das er bis heute nicht zu schätzen weiß. Ein großer Kritikpunkt von Expert:innen wie Leser:innen ist genau der: Harry reflektiert nicht über vergangene Empfindungen. Dass er als 13-Jähriger diesen Zusammenhang nicht verstand, ist das eine. Dass er in "Reserve" aber keine Zeile daran verschwendet, Vergangenes aufzuarbeiten und aus der Perspektive eines Erwachsenen zu deuten, das andere. Rückblickend denkt er nicht anders als damals, so scheint es.
Natürlich gibt es auch die viel diskutierten Skandalpassagen, in denen Harry damit anzugeben scheint, wie viele Talibanmitglieder er im Afghanistankrieg getötet hat, dass Prinz William und Prinzessin Kate aus dem Häuschen waren, dass er Meghan Markle datete, da sie so große Suits-Fans seien, oder die Schilderung seiner Leistungen beim ersten Mal, in denen er sich als "Hengst" betitelt. Alles Momente, die unter den Aspekt der überhöhten Selbstdarstellung fallen, die ein klares narzisstisches Merkmal sind.
Natürlich sind das alles auch keine klaren Beweise, dass Prinz Harry ein Narzisst ist. Sondern eher, dass er vielleicht nicht die besten Berater:innen an seiner Seite hat. Vielleicht ist er auch vor Aufregung, endlich seine Seite der Geschichte zu erzählen, über das Ziel hinausgeschossen. Vielleicht ist Prinz Harry im Inneren auch ein großes Kind geblieben, das noch lernen muss, sich erwachsen zu benehmen. Alles Spekulationen, die in wilden Fan-Theorien im Netz die Runde machen. Aber genauso ist es eine wilde Spekulation, Harry aufgrund von unglücklich formulierten Textzeilen eine psyschische Störung anzudichten. Vielleicht ist Harry ein Narzisst – vielleicht lebt er auch nur seine Main Character Energy aus.
Was ist Main Character Energy?
Main Character Energy oder auch Main Character Moments sind Augenblicke, in denen man sich fühlt wie die Hauptfigur in einem Buch oder Film – nur eben in seinem eigenen Leben. Das sind große oder kleine Momente, in denen du dich in der absoluten Kontrolle siehst, als würde die Welt nur für dich existieren. Alles dreht sich nur um dich, und alle um dich herum sind bewundernde Nebendarsteller:innen, die sich deinen Bedürfnissen unterordnen. Das Gefühl kann positiv ausgelegt werden, wenn man sicher ist: Heute läuft's einfach, mir gehört die Welt. Natürlich kann der Gedanke der Main Character Energy (was zu deutsch nichts anderes bedeutet als Haupfigur-Energie) auch negativ gesehen werden: Nur du und deine Gefühlswelt zählen, der Rest ist egal.
Narzissmus oder nicht – das wird die Zukunft zeigen müssen
Der Unterschied zu Narzissmus ist, dass Main Character Energy eben kleine Momente sind. Manchmal mehrere am Tag, manchmal einer im Monat. Es sind diese kleinen Momente, in denen man denkt, man sei der König der Welt. Oder eben der Prinz der Welt, um wieder zu Harry zu kommen. Natürlich beschönigt man in einem Buch über sich selbst einiges. Die eigenen Gedanken sind total plausibel, das eigene Handeln unausweichlich und Provokationen gegenüber anderen werden als Scherze abgeschwächt. Wer schreibt schon gerne über sich, manchmal einfach unausstehlich und weinerlich zu sein? Eben. Niemand.
Vielleicht muss sich Harry, um Erving Goffmans Theorie auch noch einmal aufzugreifen, auch erst noch in seiner neuen Rolle finden. Schließlich ist in den letzten Jahren seit dem Megxit 2020 viel passiert. Eine bis zu dem Zeitpunkt 36 Jahre alte Rolle in nur zwei Jahren komplett umzukrempeln und neu zu definieren, ist nicht einfach. Vielleicht eine Erklärung, wieso Prinz Harry dabei manchmal so unbeholfen wirkt und manche Passagen in seinem Buch eher unglücklich formuliert wurden.
In "Reserve" soll es um Harry gehen, das ist der springende Punkt. Harry darf gerne seinen Main Character Moment haben und sich in seinem eigenen Glanz sonnen. Doch es bleibt abzuwarten, wie er sich weiter im Streit mit seiner Familie verhält. Über den eigenen Schatten zu springen, Fehler einzusehen und auch die anderen wahrzunehmen – das alles sind Voraussetzungen, sich zu versöhnen. Sollte Harry wirklich narzisstische Tendenzen haben, könnte eine Familienreunion schwierig werden. Hat er einfach nur einen kleinen "Main Character"-Höhenflug, sollte ihr eigentlich nichts im Weg stehen.