Gerettet aus den Trümmern
Ein Jahr nach den Beben in Syrien und Türkei: Das wurde aus dem "Wunderbaby"
- Veröffentlicht: 02.02.2024
- 15:27 Uhr
- Anne Funk
Im Februar 2023 bebte die Erde in der Türkei und Syrien, Tausende Menschen verloren ihr Leben. Die kleine Afraa dagegen begann ihr Leben unter Trümmern - und wird nun ein Jahr alt.
Das Wichtigste in Kürze
Am 6. Februar 2023 ereigneten sich verheerende Erdbeben in Syrien und der Türkei.
Allein in der Türkei kamen rund 60.000 Menschen ums Leben.
In Syrien fand man unter den Trümmern ein lebendes Neugeborenes - es war noch mit der Nabelschnur mit seiner Mutter verbunden.
Afraa war ein Hoffnungsfunke, nachdem im Februar 2023 die Erde in der Türkei und Syrien gebebt hatte - als "Wunderbaby" erlangte das Mädchen Berühmtheit. Ihre ganze Familie verlor bei dem verheerenden Erdbeben im Nordwesten Syriens ihr Leben - nur Afraa wurde lebend von den Rettern aus den Trümmern in einem Haus in Dschindires nahe der türkischen Grenze gezogen. Mit ihrer Mutter war sie noch durch die Nabelschnur verbunden. Das ist nun ein Jahr her. "Ihr Geburtstag erinnert uns an Schrecken und an unsere verlorenen Familienmitglieder", sagt Afraas Adoptivvater Chalil Sawadi.
Adoptiert von Tante und Onkel
Nachdem Afraa gerettet wurde, adoptierten sie ihre Tante und deren Mann. Um nachzuweisen, dass die Tante tatsächlich mit der Kleinen verwandt ist, ließen die zuständigen Behörden damals einen DNA-Test machen. Von ihren neuen Adoptiveltern hatte das Mädchen auch seinen neuen Namen - Afraa hieß ihre verstorbene Mutter.
"Ich behandele sie wie mein eigenes Kind", sagt ihr Adoptivvater. Leicht sei die Situation in dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Syrien allerdings nicht. Er müsse neben Afraa auch noch für seine sieben leiblichen Kinder sorgen - und das ohne dauerhaften Job. "Wir hoffen, dass wir Afraa genügend Liebe geben können, um den Verlust ihrer Familie - deren Liebe sie nie selbst spüren konnte - auszugleichen." Es wird vermutet, dass Afraas Mutter kurz nach der Geburt unter den Trümmern starb. Auch ihr Vater und ihre vier Geschwister kamen bei der Katastrophe ums Leben, während das Mädchen selbst fast unversehrt blieb.
Tausende verloren ihr Zuhause
Zwei Beben der Stärke 7,7 und 7,6 erschütterten Anfang Februar 2023 die Südosttürkei und Teile Syriens. Etwa 60.000 Menschen verloren ihr Leben, ein Großteil davon in der Türkei. Wie viele Menschen in dem Bürgerkriegsland Syrien starben, ist schwer zu ermitteln - laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte gab es in ganz Syrien rund 6.800 Todesopfer, mehr als 11.000 Menschen wurden verletzt. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass rund 8,8 Millionen Menschen in Syrien von den Auswirkungen der Beben betroffen waren, Tausende mussten ihre Heimatorte verlassen. Zudem tobt seit 2011 ein blutiger Bürgerkrieg im Land, bei dem laut Schätzungen der UN mehr als 300.000 Menschen ums Leben gekommen sind.
Die Folgen in den betroffenen Gebieten sind auch ein Jahr nach der Katastrophe noch immer deutlich zu spüren. "Nach den Beben waren besonders Kinder Schutzrisiken ausgesetzt", erklärt Lorena Nieto vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bei einem Besuch eines Rehabilitationszentrums nahe Afraas Heimatort Dschindires. Viele Kinder seien von ihren Familien getrennt worden. Noch immer seien sowohl Eltern als auch Kinder selbst auf der Suche nach Informationen zu ihren vermissten Angehörigen.
"Ein anderes Problem ist Kinderarbeit", sagt Nieto. Familien hätten oft nicht mehr genug Einkommen zum Überleben. Die Gefahr, dass Kinder dabei ausgebeutet würden, sei noch immer sehr groß. Zusätzlich stelle Menschenhandel mit Kindern aus den Gebieten eine große Gefahr dar.
Erdbeben in der Türkei und Syrien: ein Jahr danach
Im Nordwesten Syriens kämpfen bis heute viele Kinder mit den Folgen des Bebens - auch die von Mundaser Ghanam aus dem schwer getroffenen Asamarin nahe der Grenze zur Türkei. "Einer meiner Söhne ist gestorben, meine anderen drei Kinder und meine Frau haben schwere Verletzungen in den Beinen erlitten", sagt Ghanam. "Wir haben mehrere Operationen vornehmen lassen, aber auch ein Jahr nach dem Beben leiden wir noch immer sehr", ergänzt er.
Kinder leiden unter den Folgen
All seine Kinder litten unter dem Crush-Syndrom. Das bedeutet, dass aus gequetschten Muskeln Eiweißklümpchen austreten, die dann die Niere verstopfen, was rasch zu Nierenversagen führen kann. Giftige Substanzen, die normalerweise mit dem Urin ausgeschieden werden, sammeln sich im Blut an. Mit einer Dialyse (Blutwäsche) im frühen Stadium kann sich die Niere wieder erholen. Das Crush-Syndrom wurde den Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden zufolge bei Hunderten der verletzten Menschen diagnostiziert, die genaue Zahl ist nicht bekannt.
Ähnlich wie die Kinder von Ghanam fürchten sich auch Afraa und ihre neuen Geschwister seit dem Beben in geschlossenen Räumen - insbesondere, wenn es regnet, blitzt und donnert. "Wir schlafen an solchen Tagen nicht im Haus, sondern gehen zurück in die Zelte, die wir noch aus den Tagen nach den Beben haben", sagt der Adoptivvater der Einjährigen. Er selbst ist nur zwei Tage nach Afraas Geburt selbst erneut Vater geworden. "Wir haben an den Geburtstagen der beiden Kleinen viel verloren, aber wir werden immer versuchen, unsere Kinder glücklich zu machen und ihnen dabei zu helfen zu vergessen, was an dem Tag passiert ist", sagt Sawadi.
Im Video: Erdbeben-Katastrophe in der Türkei - Reporterin über ihren emotionalsten Moment
Erdbeben-Katastrophe in der Türkei: Reporterin über ihren emotionalsten Moment
- Verwendete Quellen:
- Nachrichtenagentur dpa