Ukrainischer Vorstoß in Kursk
Gebrochenes Putin-Versprechen: Untrainierte Wehrpflichtige an der Frontlinie?
- Aktualisiert: 23.08.2024
- 09:15 Uhr
- Lisa Apfel
Die Ukraine ist in russisches Gebiet vorgedrungen. Grund dafür laut einem Bericht: Die Grenze wurde von unerfahrenen Wehrpflichtigen geschützt – damit hätte Kreml-Chef Putin ein Versprechen gebrochen.
Das Wichtigste in Kürze
Die Ukraine hat mit dem Vorstoß ins russische Gebiet Kursk Bodenkämpfe erstmals auf das Terrain des Gegners verlegt.
Einem Bericht des US-Senders CNN zufolge könnte das auch daran gelegen haben, dass untrainierte Wehrpflichtige die Grenze schützen sollten – und sich so auf einmal an der Frontlinie befanden.
Damit hätte Kreml-Chef Putin ein wichtiges Versprechen gebrochen: Ihm zufolge sollten Wehrpflichtige nicht in Kampfhandlungen verwickelt werden.
Russlands Präsident Wladimir Putin könnte den Unmut von Familien russischer Wehrpflichtiger auf sich laden. Der Grund: Der Kreml-Chef hatte laut einem CNN-Bericht zu Beginn seines Angriffskrieges auf die Ukraine versprochen, Wehrpflichtige würden nicht in Kampfhandlungen verwickelt werden.
Die ukrainischen Vorstöße auf russisches Territorium ändern die Lage nun. Der Angriff war laut CNN Beweis dafür, wie unvorbereitet Russland auf diese Art von Angriffen war – das inkludiere auch die Tatsache, dass das russische Militär ausgerechnet die schlecht ausgebildeten Wehrpflichtigen mit der Verteidigung zur Grenze der Ukraine betraut hatte. CNN beruft sich dabei auf Nachrichten aus russischen Telegram-Kanälen und anderen sozialen Medien.
Angehörige berichten von vermissten russischen Soldaten
So zitiert der US-Sender die Nachricht einer Frau auf Telegram, die laut Eigenangaben Mutter eines Wehrpflichtigen in Kursk ist: "Als die Grenze um 3 Uhr morgens von Panzern angegriffen wurde, verteidigten sich nur Wehrpflichtige." Weiter schilderte die Frau, die sich als Olga ausgab: "Sie haben keinen einzigen Soldaten gesehen, nicht einen einzigen Vertragssoldaten - sie haben überhaupt niemanden gesehen. Mein Sohn rief später an und sagte: 'Mama, wir stehen unter Schock'."
CNN hat dazu das russische Verteidigungsministerium um Stellungnahme gebeten, bisher blieb die Anfrage jedoch unbeantwortet.
Ein weiteres Beispiel von verzweifelten Angehörigen ist ein Interview der unabhängigen russischen Nachrichtenagentur Verstka mit Natalia Appel, der Großmutter eines russischen Wehrpflichtigen. Er diente in Kursk und gilt nun als vermisst. Appel zufolge sei ihr Enkel Vladislav ohne Waffen in einem Dorf etwa 500 Meter von der Grenze stationiert gewesen. "Was sollten die Jungen tun? Mit einer Schaufel gegen die ukrainischen Soldaten vorgehen?", wurde sie zitiert.
Appel ist mit ihrem Schicksal nicht allein: Dem CNN-Bericht zufolge kursieren in verschiedene sozialen Netzwerken – der Sender nennt das russische Netzwerk Kotante als Beispiel – Dutzende Nachrichten von Menschen, die sich als Angehörige von russischen Wehrpflichtigen ausgeben, die in der Region Kursk vermisst werden.
Im Video: Zweite Brücke in Kursk zerstört – Ukraine rückt weiter auf russischem Gebiet vor
Ukrainischer Vorstoß: Wehrpflichtige sicherten Grenze
Der Sender berichtet weiter, zumindest einige der Wehrpflichtigen scheinen als Gefangene in die Ukraine gebracht worden sein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe demnach bestätigt, dass die Kiewer Streitkräfte bei ihrem weiteren Vormarsch auf Kursk Kriegsgefangene machten. Das ukrainische Militär veröffentlichte außerdem mehrere Videos und Fotos von Männern, bei denen es sich angeblich um russische Kriegsgefangene handelte.
Das Thema der Wehrpflichtigen ist dem Bericht zufolge ein heikles in Russland – nicht nur aufgrund Putins wiederholtem Versprechen, diese würden nicht in den Kampf geschickt, sondern auch, weil Mütter und Ehefrauen von Soldaten traditionell eine einflussreiche Stimme im Land seien. Für Kreml-Chef Putin bedeutet das: Druck – und zwar aus der eigenen Bevölkerung.
CNN zufolge wurde eine Petition im Internet verbreitet, in der Putin dazu aufgefordert wird, die Wehrpflichtigen aus dem Gebiet abzuziehen.
Und auch militärisch wirft die Strategie kein gutes Licht auf Moskau. CNN mutmaßt: Die Tatsache, dass Russland sich bei der Verteidigung der Grenze auf Wehrpflichtige verlassen hatte, wäre wahrscheinlich Grund für das so leichte Eindringen beim ersten Vorstoß der ukrainischen Truppen auf russisches Territorium gewesen.
Behandlung Wehrpflichtiger in Russland heikles Thema
Alle gesunden Männer in Russland unterliegen der Wehrpflicht und müssen – sollten sie eingezogen werden – ein Jahr lang im Militär dienen. Laut CNN gibt es in der Regel zwei Einberufungen pro Jahr. Jedes Mal werden dabei weit über 100.000 junge Männer eingezogen. Eine Verweigerung ist ein Verbrechen und kann mit Gefängnis bestraft werden.
Letztes Jahr ließ Putin das Wehrpflichtalter um drei Jahre auf 30 erhöhen. Die Wehrpflichtigen erhalten dem Bericht des US-Senders zufolge im Gegensatz zu Berufssoldaten nur eine begrenzte Ausbildung. Der Grund: Ihre Entsendung nach Übersee ist verboten, an Kampfhandlungen sollen sie – wie schon gesagt – nicht teilnehmen.
Die russische Zivilgesellschaft hat Putin zwar weitgehend mundtot gemacht, dennoch ist die Behandlung der Wehrpflichtigen ein Streitthema in Russland. Dass nun Wehrpflichtige vollkommen unvorbereitet an der Frontlinie gestanden haben sollen, dürfte die Lage nicht entspannen.
Russische Oppositionelle kritisieren Vorgehen
Die Entsendung von Wehrpflichtigen an die Grenze wurde auch von russischen Oppositionsführern kritisiert, berichtet CNN weiter. So veröffentlichte das Antikriegskomitee Russlands, eine Gruppe von Exilrussen, eine Erklärung, in der sie Putin kritisierte. CNN zitiert daraus: "Das Fehlen nennenswerter Militäreinheiten der Russischen Föderation an der Grenze zum Zeitpunkt des Angriffs und die gleichzeitige ununterbrochene Durchführung aggressiver militärischer Operationen seit mehr als 900 Tagen auf dem Territorium der souveränen Ukraine ist der beste Beweis dafür, dass Putin erneut lügt, wenn es um den 'Schutz Russlands' geht. Er kümmert sich nicht um Russland, er schützt nur sich selbst."
Trotz aller Empörung: Dies ist nicht das erste Mal, dass russische Wehrpflichtige – entgegen Putins Versprechen – in seinem Krieg gegen die Ukraine kämpfen. So hatte das russische Verteidigungsministerium kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 laut CNN zugegeben, dass Wehrpflichtige in der Ukraine "entdeckt" worden seien. Moskaus Militär zufolge seien die Wehrpflichtigen abgezogen und nach Russland zurückgebracht und der verantwortliche Kommandeur bestraft worden.
Unmut bei Ehefrauen und Mütter russischer Soldaten
Generell sind viele Angehörige schon länger wütend: Ehefrauen und Mütter russischer Soldaten haben im Juni in Moskau für die Rückkehr der Männer aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine demonstriert. Die Deutsche Presse-Agentur hatte berichtet. Hintergrund der Proteste war die Mobilisierungswelle, die Putin rund ein halbes Jahr nach dem Einmarsch in die Ukraine angeordnet hatte. Damals wurden offiziellen Angaben zufolge 300.000 Männer zum Kriegsdienst in die Armee eingezogen. Bei vielen Angehörigen wächst mittlerweile der Unmut darüber, dass diese Männer oft noch immer nicht zurückgekehrt sind - während andere Kämpfer, die sich freiwillig zum Einsatz an der Front gemeldet hatten, teils schon wieder zurück in Russland sind.
Öffentliche Anti-Kriegs-Aktionen sind in Russland angesichts massiver staatlicher Repressionen sehr selten. Offen kremlkritische Demonstranten werden in der Regel sofort festgenommen. Die Frauen mobilisierter Männer lassen die Beamten zwar oft eine Weile lang gewähren. Doch auch sie werden laut dpa stark unter Druck gesetzt.
- Verwendete Quellen:
- Nachrichtenagentur dpa